19. August 2024

Psychologische Sicherheit verstehen und stärken

von Lyn von der Laden

 

„Ein Klima psychologischer Sicherheit ist der wichtigste Faktor für hohe Teamleistung“ – Dieses Ergebnis des sogenannten Aristoteles Projekt von Google aus 2012 hat für viel Aufsehen gesorgt. Und es gibt viele weitere Studien, die die positive Wirkung hoher psychologischer Sicherheit im Team beschreiben. Wer sein Team stärken möchte, dem sei es also sehr an Herz gelegt, sich mit diesem Thema vertraut zu machen und Handlungsoptionen zu kennen. Aber starten wir erstmal mit einer Definition.

 

Was bedeutet psychologische Sicherheit?

Psychologische Sicherheit ist ein organisationpsychologisches Konstrukt. Laut Prof. A. Edmondson meint es "ein Teamklima, in dem wir uns sicher fühlen, zwischenmenschliche Risiken einzugehen". In so einem Klima fühlen wir uns sicher, Ideen, Fragen, Bedenken oder Fehler anzusprechen, ohne bestraft oder beschämt zu werden. Wir tragen keine metaphorische Maske, sondern fühlen uns gut dabei, als ganzer Mensch in Erscheinung zu treten.  Wir fühlen uns als Individuen angenommen und wohl und sind dadurch bereit, uns voll einzubringen. Die Forschung zeigt, dass so ein Klima teamspezifisch ist, aber auch von der Organisationskultur beeinflusst werden kann.

 

Welche Wirkung hat psychologische Sicherheit auf die Leistung im Team?

Hohe Psychologische Sicherheit im Team hat laut Forschung zahlreiche positive Auswirkungen. Die im Aristoteles Projekt von Google gefundenen Ergebnisse hinsichtlich Teamleistung spiegeln sich auch in weitere Studien wieder: Laut Li und Yan (2009) und Lee, Swink und Pandejpong (2011) steht psychologische Sicherheit im Zusammenhang mit Qualität, Effizienz und Produktivität

 

Außerdem stärkt psychologischer Sicherheit sowohl den Erwerb von neuem Wissen als auch die Nutzung und Verarbeitung von vorhandenem Wissen. Beides ist für die Maximierung der Gesamtleistung notwendig (u.a. Kostopoulos & Bonzionelos, 2011). Zudem steigt innovatives Verhalten (Post, 2012; Gu, Wang & Wang, 2013) und das Ergebnis gemeinsamer Arbeit ist kreativer (Wilkens, 2006). 

 

Ebenso wirkt sich Diversität in Expertise positiv auf Teamleistung aus, wenn die psychologische Sicherheit hoch ist. Gemeint ist mit dieser Diversität, dass es in einem Team eine Vielfalt an Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten gibt. Ist kein Klima psychologischer Sicherheit vorhanden, wirkt sich diese Vielfalt an Expertise sogar negativ auf die Leistung aus (Martins, Schilpzand, Kirkman, Ivanaj & Ivanaj, 2013). 

 

Eine weitere Folge psychologischer Sicherheit ist, dass Kolleg:innen sich eher helfen, z.B. bei schwierigen Aufgaben oder wenn ein:e Kolleg:in zu viel zu tun hat. Außerdem fördert so ein Klima die Identifikation mit der Organisation, für die man arbeitet (Singh & Winkel, 2012). 

 

Bei all diesen Studien, die psychologische Sicherheit isoliert betrachten, ist wichtig festzuhalten: Psychologische Sicherheit wirkt dann besonders effektiv, wenn im Team auch Verantwortungsübernahme und Motivation hoch sind. Wenn das nicht gegeben ist, entsteht schnell eine Kultur, in der sich Teammitglieder zwar sicher, aber nicht herausgefordert fühlen und wichtiges Feedback ausbleibt (Edmondson, 2012; Tenelius & Gill, 2020)

 

Welche Faktoren beeinflussen, wie psychologisch sicher ein Teamklima ist? 

Einige Studien zeigen, dass Statusunterschiede Einfluss auf psychologische Sicherheit haben. Am sichersten fühlen sich die Menschen, die in der Hierarchie weit oben sind (Nembhard & Edmondson, 2006; Kahn, 1990). Neben dem formellen Status in der Organisation hat auch der subjektive Status Einfluss auf die psychologische Sicherheit (Bienefeld & Grote, 2012). Ein Beispiel dafür ist die informelle Mitgliedschaft im inneren Kreis der Führungskraft (Burris et al., 2009).

 

Liu et al. (2014) konnten zeigen, dass eine gleichmäßige Verteilung des Führungseinflusses im Team sich positiv auf psychologische Sicherheit auswirkt. Damit ist gemeint, dass Verantwortlichkeiten gleichmäßig unter den Teammitgliedern verteilt werden und nicht nur von einer Person übernommen werden. Wir sprechen hier also von selbstgeführten/selbstorganisierten Teams

 

Wenn es im Team eine Führungskraft gibt, hat das Verhalten dieser Führungskraft großen Einfluss auf psychologische Sicherheit. Förderlich ist z.B., wenn Führungskräfte die Mitarbeitenden wertschätzen und als kompetent einschätzen (Tynan, 2005) . Des Weiteren ist die Integrität und Einschätzbarkeit der Führungskraft wichtig (Palanski & Vogelsang, 2011; Kahn, 1990) Auch ein Coaching-orientiertes Führungsverhalten fördert psychologische Sicherheit (Edmondson, 1999).

 

Neben Hierarchie und Führungsverhalten spielen auch die Beziehungen zwischen Kolleg:innen eine Rolle. Förderlich für psychologische Sicherheit sind Beziehungen, die emotional belastbar sind. Das heißt, dass es in diesen Beziehungen möglich ist, unterschiedliche Emotionen ohne Verlegenheit auszudrücken. Dies fördert, dass man sich verstanden fühlt. In solchen Beziehungen ist es zudem möglich, sich authentisch und spontan auszudrücken, ohne dafür negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Außerdem gibt es starke Verbindung und Offenheit. Und schließlich sind diese Beziehungen durch gegenseitige Wertschätzung geprägt (Carmeli, Brueller & Dutton, 2009; May, Gilson & Hartner, 2004).

 

Ebenfalls relevant sind eine fehlerfreundliche Kultur, Normen, die innovatives Denken und Experimentieren belohnen (Schein, 1992), Freiraum in der Ausübung der Tätigkeit (Kahn, 1990), die Verfügbarkeit von benötigten Informationen und Ressourcen (Edmondson, 1999) sowie das Schaffen eines Diversity Klimas. Letzteres beschreibt, inwiefern die Mitarbeitenden wahrnehmen, dass das Unternehmen Vielfalt schätzt, einbezieht und fördert (Singh, Winkel & Selvarajan, 2012).

 

Was lässt sich konkret tun?

Nun wird es spannend. Was für konkrete Maßnahmen könnten hilfreich sein, um psychologische Sicherheit im Team zu fördern?

 

Zuerst ist es sinnvoll, im konkreten Fall hinzuschauen, wie es um die psychologische Sicherheit steht und welche Faktoren auf sie wirken. Dabei kann es Sinn machen, sich quantitativ mit einem von Prof. Amy Edmondson entwickelten Fragebogen ein erstes Bild zu machen und/oder mit qualitativen Interviews ein tieferes Verständnis zu entwickeln. Daraus können dann Maßnahmen entwickelt werden. Dafür möchte ich einige konkrete Möglichkeiten aufzeigen.

 

Da Statusunterschiede ja hinderlich sein können, kann geteilte Führung eine Antwort sein. Allerdings muss das nicht unbedingt komplett selbst-geführte Teams bedeuten. Diese können tatsächlich psychologische Sicherheit stärken – allerdings meiner Erfahrung nach nur, wenn es schon eine gewisse Basis an psychologischer Sicherheit und Kommunikations-, Feedback- und Konfliktkompetenzen gibt. Sonst kann es ganz schön nach hinten losgehen. Es macht Sinn, behutsam vorzugehen auf dem Weg in Richtung Selbstorganisation. 

 

Erstmal nur etwas mehr geteilte Führung kann ein erster Schritt sein, z.B. durch Abgabe von einigen Führungsaufgaben auf Teammitglieder, durch die Nutzung partizipativer Entscheidungsmethoden in bestimmten Themenbereichen u.ä. . Wichtig ist hierbei, dass sich die Führungskraft an das hält, was sie mit dem Team hinsichtlich geteilter Führung ausgemacht hat. Sonst entstehen Unsicherheit und Misstrauen. Außerdem macht es Sinn, sich mit wirksamen Formen des gemeinsamen Entscheidens auseinandersetzen. Konsens- und Mehrheitsprinzipien sind oft weder effektiv noch effizient. Ich empfehle, sich z.B. den Integrativen Entscheidungsprozess und andere sog. KonsenT-basierte Entscheidungsmethoden anzuschauen. 

 

Wenn sich herausstellt, dass der Führungsstil der Führungskraft die psychologische Sicherheit schwächt, dann kann ein Führungskraft-Coaching mit einem Coach, der:die mit psychologischer Sicherheit vertraut ist, sicherlich hilfreich sein. 

 

Für ein gute Kommunikation im Team halte ich viel von der Gewaltfreien Kommunikation (GfK). Die GfK ist eine Möglichkeit, sich selbst mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen besser kennenzulernen, sich dadurch klarer auszudrücken und um das zu bitten, was man braucht. Sie ist hilfreich zur Selbstklärung, Konfliktlösung und für Feedbackgespräche. Sie hilft uns, uns gegenseitig besser zu verstehen, wertschätzend miteinander umzugehen und gleichzeitig für uns selbst einzustehen. Dadurch können Beziehungen gestärkt werden. Ergänzend zu GfK-Trainings sind Strukturen hilfreich, die die Klärung von Spannungen ermöglichen, noch bevor sie zum Konflikt werden (z.B. regelmäßige Feedbackgespräche untereinander) sowie Formate zur Konfliktlösung. 

 

Sogenannte CheckIns vor Meetings können ebenfalls Sicherheit fördern. Dabei erzählt jede Person kurz, wie sie gerade da ist – d.h. wie es ihr gerade geht oder was ihr gerade im Kopf rumschwirrt. Dadurch können gegenseitiges Verständnis und ein achtsamerer Umgang miteinander gestärkt werden. Grundsätzlich sind Möglichkeiten für Teammitglieder, sich besser kennenzulernen, hilfreich. 

 

Es kann für einzelne Teammitglieder Sinn macht, sich über ein Coaching o.ä. begleiten zu lassen, um unbewusste Muster und weniger hilfreiche Verhaltensweisen im Teamgefüge in einem geschützten Rahmen anschauen und neue erproben zu können. Dies sollte aber immer freiwillig passieren. 

 

Der Umgang mit Fehlern sollte konstruktiv sein; das in Ihnen liegende Entwicklungspotential sollte gesehen und der Fokus auf gemeinsame Erfolge gelegt werden. Auch die stärkenorientierte Aufgabenverteilung macht Sinn. 

 

Insgesamt kann Psychologische Sicherheit nur durch wiederkehrende Handlungen gestärkt und erhalten werden und nicht durch einmalige Trainings oder Absichtserklärungen. 

 

Ja, aber…“ – sagt die Nervensystemforschung

Bevor der Artikel endet, mache ich es nochmal etwas komplizierter ;-) 

 

All die oben beschriebenen Maßnahmen können nicht garantieren, dass sich ein Mensch sicher fühlt. Wie sicher wir uns fühlen, hat viel mit unserem Nervensystem und den darin abgespeicherten Erfahrungen von (gefühlter) Sicherheit und Unsicherheit zu tun. Insbesondere überwältigende vergangene Erfahrungen (Trauma) können dazu führen, dass wir die Sicherheit im Jetzt nicht wahrnehmen können. Gleichzeitig brauchen Menschen mit einem gut regulierten Nervensystem nicht unbedingt all die oben beschriebenen Maßnahmen, um sich sicher und wohl zu fühlen.  

 

Neugierig geworden? – Mehr dazu in Teil 2 dieser Artikelserie: Psychologische Sicherheit aus Nervensystemperspektive.

  

(Foto von Sylvain Brison auf Unsplash)

 

 


Über Lyn von der Laden

Als Coach und Beraterin für Zusammenarbeit begleite ich Teams und Organisationen, ihre Zusammenarbeit wirksam, anpassungsfähig und freudvoll zu gestalten. Außerdem schreibe ich regelmäßig über meine Herzensthemen, z.B. über Selbstorganisation, psychologische Sicherheit oder die Bedeutung des Nervensystems für wirkungsvolle Teamarbeit.

 

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Quellen

Bienefeld, N. & Grote, G. (2014). Speaking up in ad hoc multiteam systems: Individual-level effects of psychological safety, status, and leadership within and across teams. European Journal of Work and Organizational Psychology, 23 (6), 930-945.

 

Carmeli, A., Brueller, D. & Dutton, J. (2009). The role of high-quality interpersonal relationships and psychological safety. Systems Research and Behavioral Science, 26, 81-98.

 

Edmondson, A. (2012). Teaming: How Organizations Learn, Innovate, and Compete in the Knowledge Economy. Jossey-Bass.

 

Edmondson, A. (1999). Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams. Administrative Science Quarterly, 44 (2), 350-383.

 

Gu, Q., Wang, G. & Wang, L. (2013). Social capital and innovation in R&D teams: the mediating roles of psychological safety and learning from mistakes. R & D Management, 43 (2), 89-102.

 

Kahn, W. (1990). Psychological Conditions of Personal Engagement and Disengagement at Work. The Academy of Management Journal, 33 (4), 692-724.

 

Kostopoulos, K. & Bozionelos, N. (2011). Team exploratory and exploitative learning: Psychological safety, task conflict, and team performance. Group and Organization Management, 36 (3), 385 – 415.

 

Lee, J., Swink, M. & Pandejpong, T. (2011). The Roles of Worker Expertise, Information Sharing Quality, and Psychological Safety in Manufacturing Process Innovation: An Intellectual Capital Perspective. Production and Operation Management, 20 (4), 446-570.

 

Li, N. & Yan, J. (2009). The effects of trust climate on individual performance. Frontiers of Business Research in China, 3 (1), 27-49.

 

Liu, S., Hu, J., Li, Y, Wang, Z. & Lin, X. (2014). Examining the cross-level relationship between shared leadership and learning in teams: Evidence from China. The Leadership Quarterly, 25, 282-295.

 

Martins, L., Schilpzand, M., Kirkman, B., Ivanaj, S. & Ivanjaj, V. (2013). A Contingency View of the Effects of Cognitive Diversity on Team Performance: The Moderating Roles of Team Psychological Safety and Relationship Conflict. Small Group Research, 44 (2), 96-126.

 

May, D.R., Gilson, R. L. & Hartner, L. (2004). The psychological conditions of meaningfulness, safety and availability and the engagement of the human spirit at work. Journal of Occupational and Organizational Psychology, 77, 11-37.

 

Nembhard, I. & Edmondson, A. (2006). Making it safe: The effects of leader inclusiveness and professional status on psychological safety and improvement efforts in health care teams. Journal of Organizational Behavior, 27, 941-966.

 

Palanski, M. & Vogelgesang, G. (2011). Virtuous Creativity: The effects of leader behavioural integrity on follower creative thinking and risk taking. Canadian Journal of Administrative Sciences, 28, 259 – 269.

 

Post, C. (2012). Deep-Level Team Composition and Innovation: The Mediating Roles of Psychological Safety and Cooperative. Learning Group & Organization Management, 37(5), 555–588.

 

Schein, E. (1992) How can organizations learn faster? The problem of entering the green room. Working Paper, MIT.

 

Singh, B. & Winkel, D. (2012). Racial Differences in Helping Behaviors: The Role of Respect, Safety and Identification. Journal of Business Ethics, 106, 467-477.

 

Singh, B., Winkel, D. & Selvarajan, T. (2012). Managing diversity at work: Does psychological safety hold the key to racial differences in employee performance? Journal of Occupational and Organizational Psychology, 86, 242-263.

 

Tenelius, K. & Gill, L. (2020). Moose Head on the Table. Tuff Leadership Training.

 

Tynan, R. (2005). The Effects of Threat Sensitivity and Face Giving on Dyadic Psychological Safety an Upward Communication. Journal of Applied Social Psychology, 35 (2), 223-247.

 

Wilkens, R. (2006). Relationships between climate, process, and performance in continuous quality improvement groups. Journal of Vocational Behavior, 69, 510 – 523.